Internationale Krisen, Lieferengpässe und starker Wettbewerbsdruck im globalen Maßstab setzen die deutsche Fertigungsindustrie zunehmend unter Handlungsdruck. Im Interview erklären Nils Tinnermann, Vertriebsleiter Fertigungsindustrie bei SAP Deutschland, und José Iglesias, Head of Sales & Business Development bei IBsolution, wie Unternehmen ihre Business-Transformation bewältigen und die Voraussetzungen für innovatives, nachhaltiges und dauerhaftes Wachstum schaffen.

 


 

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Was ist unter dem Schlagwort „Industrial Manufacturing 4.0“ zu verstehen?

nils-tinnermann-400x400px-webNils Tinnermann: Der Begriff bezeichnet die Ausrichtung der gesamten Fertigungsindustrie auf die Prinzipien der Industrie 4.0. Grundlegende Konzepte zur Konnektivität von Menschen, Prozessen und Maschinen über das Internet of Things existieren bereits seit vielen Jahren. Angesichts der volatilen Rahmenbedingungen, denen Fertigungsunternehmen unterliegen, ist es jetzt aber an der Zeit, das Thema weiterzudenken, um Aspekte wie Kostendruck, Resilienz und Nachhaltigkeit zu managen. Das SAP-Programm Industry 4.NOW zielt auf eine Konnektivität auf der Basis von Echtzeit-Daten ab. Diese bildet die Grundlage für individualisierte Produkte, flexible, automatisierte Fabriken und eine proaktive, performancebasierte Steuerung von Anlagen.

 

Mit welchen Herausforderungen müssen sich Unternehmen der Fertigungsindustrie aktuell auseinandersetzen?

jose-iglesias-400x400px-webJosé Iglesias: Eines der dominierenden Themen ist derzeit sicherlich die digitale Transformation im Allgemeinen bzw. der Umstieg auf SAP S/4HANA im Speziellen. Außerdem geht es für Unternehmen darum, eine durchgängige Customer Experience zu schaffen. Die Kunden erwarten einheitliche Informationen – unabhängig davon, über welche Kanäle sie Kontakt mit dem Unternehmen aufnehmen. Ebenso relevant ist die Transformation der Geschäftsmodelle hin zu einer stärkeren Serviceorientierung. Statt des Verkaufs von Maschinen geht es künftig stärker um ihre Vermietung und eine nutzungsbasierte Abrechnung. Den regulatorischen Rahmen geben gesetzliche Bestimmungen wie die EU-Taxonomie-Verordnung und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz vor. Unternehmen müssen Wege finden, um die Energiewende und den Klimawandel zu bewältigen sowie eine höhere Krisenfestigkeit in Pandemie- oder Krisenzeiten sicherzustellen.

 

Welche (technologischen) Voraussetzungen sollten Unternehmen jetzt schaffen, um zukünftigen Erfolg sicherzustellen?

Nils Tinnermann: Für die Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit müssen Unternehmen flexibel, agil und kostenoptimiert arbeiten. Das schaffen sie, indem sie Daten nicht nur end-to-end erheben, sondern auch in Echtzeit auswerten und auf dieser Grundlage fundierte Entscheidungen treffen. Industrie 4.0 ermöglicht genau dieses datenbasierte Vorgehen entlang der Geschäftsprozesse.

 

Eine weitgehende Prozessautomatisierung wirkt sich positiv auf die Kosten aus. Wenn Prozesse end-to-end gesteuert werden und eine hohe Standardisierung aufweisen, lassen sich Technologien wie künstliche Intelligenz nutzen, um manuelle Schritte zu eliminieren und die Prozesse zu optimieren. Ein typisches Szenario hierfür ist Predictive Maintenance.

 

Die Voraussetzung für Flexibilität und Agilität ist ein ausgeprägtes Verständnis für die Vorgänge und die Zusammenhänge innerhalb der eigenen Fertigung, aber auch über die gesamte Lieferkette hinweg. Unternehmen können auf unvorhergesehene Ereignisse wie die tagelange Blockade des Suezkanals im vergangenen Jahr nur flexibel reagieren, wenn ihre Transportnetzwerke maximal transparent sind und beispielsweise Simulationen gefahren werden.

 

Wie gehen Fertigungsunternehmen ihre Business-Transformation am besten an?

José Iglesias: Wir empfehlen eine Top-down-Herangehensweise auf drei Ebenen. Auf strategischer Ebene sind die übergeordneten Unternehmensziele relevant und die Frage, ob es eine Digitalstrategie gibt, an der sich die Business-Transformation orientieren kann. Außerdem muss klar sein, wo die künftigen Wertetreiber sind und welche KPIs das Unternehmen steuern sollen. Auch das Risikomanagement spielt eine wichtige Rolle.

 

Die taktische Ebene befasst sich mit der avisierten Zielarchitektur. Von Bedeutung ist nicht nur die im Unternehmen vorhandene Stammdatenqualität, sondern auch die mögliche Entscheidung für eine prozessorientierte Organisation. Wie der Begriff Business-Transformation vermuten lässt, soll der Wandel von den Fachbereichen getrieben werden. Es gilt also, die entsprechenden Experten für das Projekt zeitlich einzuplanen und gegebenenfalls im Tagesgeschäft zu entlasten. Um die Veränderungen in das Unternehmen zu tragen und die Mitarbeiter zu befähigen, kommt den Themen Change Management und People Enablement entscheidende Bedeutung zu.

 

Die eigentliche Umsetzung der Transformation findet auf der operativen Ebene statt. Je nach Ansatz ist eine Analyse der Ist-Prozesse und eine Definition der Soll-Prozesse empfehlenswert. Anschließend geht es an die Abarbeitung der einzelnen Teilprojekte, damit sich schnelle Erfolge einstellen.

 

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in diesem Zusammenhang?

José Iglesias: Aktuelle Herausforderungen wie die Energiewende und der Klimawandel erfordern eine stärkere strategische Ausrichtung in Richtung Nachhaltigkeit. Hinzu kommen regulatorische Anforderungen, etwa die EU-Taxonomie-Verordnung oder das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, sowie die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen als politische Zielsetzungen. Auch Banken und Finanzinvestoren verlangen immer häufiger überzeugende Nachhaltigkeitskonzepte, bevor sie entsprechende Gelder bewilligen. Daher muss Nachhaltigkeit zur „Chefsache“ werden und Eingang in die strategische Planung von Unternehmen finden.

 

Wo steht die deutsche Fertigungsindustrie im internationalen Vergleich und wo liegen ihre besonderen Stärken?

Nils Tinnermann: Die globalen Produktionsnetzwerke haben zur Folge, dass die deutsche Fertigungsindustrie mit den gleichen Herausforderungen zu kämpfen hat wie Unternehmen aus anderen Ländern. Aktuell wirken sich vor allem die Lieferengpässe bei Elektronik-Komponenten, hohe Rohstoffpreise und der Krieg in der Ukraine negativ aus. Gleichzeitig können deutsche Unternehmen auf ein starkes Fundament in Form von gut ausgebildeten Mitarbeitern und wirksamen politischen Regelungen zurückgreifen. So hat beispielsweise das Kurzarbeitergeld die deutsche Fertigungsindustrie trotz Einbußen gut durch die Corona-Krise gebracht.

 

Die Pandemie hat den Unternehmen auch die Bedeutung der Digitalisierung vor Augen geführt. Sie steht mittlerweile bei vielen Unternehmen ganz oben auf der Agenda. Hier gilt es, nach einigen Experimenten unter anderem im Bereich Industrie 4.0 den nächsten Schritt zu machen und Skalierbarkeit zu erreichen. Außerdem ist es entscheidend, dass die Digitalisierungsinitiativen trotz akuter Krisen und Herausforderungen weiter vorangetrieben werden und nicht im Sand verlaufen.

 
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